Xenophons «Anabasis»: Auch ein gewonnener Krieg kann scheitern (2024)

Ein König will seinen Bruder vom Thron stossen und stirbt. Zurück bleibt ein Söldnerheer von zehntausend Mann. Klingt wie ein Märchen, ist aber keines. Xenophon von Athen hat die Geschichte kurz nach 400 v.Chr. erzählt, aus eigener Erfahrung.

Clemens Klünemann

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Xenophons «Anabasis»: Auch ein gewonnener Krieg kann scheitern (1)

Wir sind im Jahr 401 v.Chr. Kyros und Artaxerxes, zwei persische Königssöhne, streiten um die Macht. Kyros, der jüngere, der gegen den älteren einen Aufstand plant, wirbt unter den Griechen ein Söldnerheer an, das von Kleinasien aus nach Persien zieht. Bei Kunaxa, in der Nähe von Babylon, kommt es zur Schlacht. Das griechische Heer, rund zehntausend Mann, ist überlegen, siegt. Doch Kyros fällt. Zusammen mit allen Offizieren. Was nun?

Von diesem «Hinaufmarsch» nach Persien, auf Griechisch «Anabasis», berichtet der Historiker Xenophon in seinem Buch mit dem gleichen Titel. Er wusste, wovon er schrieb, denn er war dabei. Als es losging an der Ostküste der Ägäis bis weit ins Zweistromland und genauso, als der dezimierte Tross wieder zurückmarschierte, hinab zum Schwarzen Meer.

Ganz unspektakulär beginnt Xenophon die Schilderung der Ereignisse: «Dareios und Parysatis hatten zwei Söhne; der ältere war Artaxerxes, der jüngere Kyros.» Der Althistoriker Wolfgang Will, der in seinem neuen Buch diesem merkwürdigen Kriegszug nachspürt, kommentiert den Auftakt lakonisch: «Es beginnt wie ein Grimmsches Märchen – und endet ähnlich blutig. Es waren zwei Königssöhne – und nur einer konnte König werden.»

Sehnsucht nach Griechenland

So klingt eine uralte Geschichte aus ferner Zeit. Eine Geschichte, die von Macht, Konkurrenz und Bruderzwist erzählt. Von Gier und Neid, von Gewaltmärschen durch die sengende Hitze und über vereiste Hochebenen Kleinasiens und von der Sehnsucht der Söldner nach ihrer Heimat Griechenland. Aber nicht nur aus diesem Pathos, sondern vor allem aus den Beobachtungen des Kriegsberichterstatters und Historikers Xenophon schlägt Wolfgang Will die Funken seiner Studie.

Der Zug der Zehntausend ist in mehrfacher Hinsicht spektakulär. Denn die Griechen, die gemeinsam gegen den Grosskönig zogen, hatten sich kurz zuvor im dreissigjährigen Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta noch untereinander brutal bekämpft. Der Athener Xenophon nennt die Söldner konsequent Hellenen und stilisiert somit eine gemeinsame Heimat und Herkunft, die es nicht gab, nach der sich in der bedrohlichen Fremde aber alle sehnten.

Warum schloss sich Xenophon diesem Abenteuer an? Gleich im ersten Satz lässt Wolfgang Will keinen Zweifel, worum es ihm geht: «Das Leben Xenophons in diesem Buch nachzuzeichnen, ist mein Ziel», schreibt er und betont, dass es die Verflechtung des Individuellem mit dem Geschichtlichen sei, was Xenophons Buch interessant mache.

Die grossen Fragen der Zeit

Die «Anabasis» als Zeugnis der Lehrjahre – nicht des Gefühls, aber des Bewusstseins? So deutet Wolfgang Will die Beobachtungen des griechischen Aristokratensohns, die immer mehr zu einer Selbstbeobachtung, zur Selbstreflexion des Griechen in der Fremde werden: «Der Glaube an eine ethnische oder sonstige Überlegenheit der Griechen», schreibt Will, «war schon während der Niederschrift der Anabasis ins Wanken geraten.»

Ist es übertrieben, in der «Anabasis» eine kulturanthropologische Studie avant la lettre zu sehen? Immerhin wusste Xenophon, dass sich sein Lesepublikum für unbekannte Tiere genauso interessierte wie für exotisch anmutende Sitten und Gebräuche oder für Bauwerke und Ruinen untergegangener Reiche. In der «Anabasis» kam er diesem Wunsch nach. Vor allem im zweiten Teil, der den Weg des Heeres ans Schwarze Meer beschreibt.

Indem Wolfgang Will nah am Text und detailreich erzählt, zeigt er, wie modern die «Anabasis» ist und wie der Autor durch das Schreiben zum Bewusstsein seiner selbst und zu den grossen Fragen seiner Zeit gelangt. Etwa der Frage nach der idealen Herrschafts- und Staatsform, die nicht theoretisch reflektiert, sondern in der Kommunikation mit seinen Mitstreitern und Untergebenen direkt ausprobiert wird.

Kampf ums Lebensnotwendige

Xenophon ist ins Geschehen involviert, auch bei den grausigen Geschehnissen, von denen er berichtet. Er beschreibt die Ereignisse direkt und spontan. Da geht es nicht nur um Krieg, sondern auch um den ganz normalen Alltag von Griechen, Persern und anderen Völkern, die im Grossreich leben. Das unterscheidet den Sokrates-Schüler Xenophon fundamental vom anderen, ungleich berühmteren Sokrates-Schüler Platon, der nicht den Kampf ums Lebensnotwendige beschrieb, sondern den Kampf um die unsterbliche Seele.

Der Krieg, den Xenophon beschreibt, ist gescheitert. Die Absicht des Kyros, seinen Bruder zu stürzen, schlug fehl und kostete unzählige Menschen das Leben. Der Zug der Zehntausend, schreibt Wolfgang Will, belege auch «die uralte Erfahrung, dass es sehr viel leichter ist, in ein Land einzufallen, als wieder unbeschadet aus ihm herauszufinden».

Wolfgang Will: Der Zug der 10000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres. C.H. Beck, München 2022. 314S., Fr. 39.90.

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